Trennungsangst – nicht immer gerechtfertigt, aber real

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Trennungsangst ist kein Phänomen, das ausschließlich Kinder betrifft. Auch Erwachsene können unter intensiver Angst vor dem Alleinsein, dem Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder dem Ende einer engen Beziehung leiden. Diese Angst kann sich emotional, körperlich und verhaltensbezogen äußern: übermäßiges Klammern, Verlustfantasien, Vermeidung von Nähe aus Angst vor späterem Schmerz oder auch das permanente Bedürfnis nach Bestätigung.

Im Gegensatz zu einer natürlichen Trauer nach einem Verlust ist Trennungsangst meist dauerhaft vorhanden – unabhängig davon, ob ein tatsächlicher Beziehungsabbruch bevorsteht. Oft ist die Angst irrational stark ausgeprägt und dominiert das Beziehungserleben:

Woher kommt die Angst vor dem Verlassenwerden?

Trennungsangst entsteht selten aus dem Nichts. Vielmehr basiert sie oft auf früh erlernten Mustern. Ein zentraler Risikofaktor ist das Erleben einer unsicheren Bindung in der Kindheit. Das kann durch emotionale Vernachlässigung, instabile Bezugspersonen oder verlustreiche Erfahrungen hervorgerufen werden. Unser Gehirn entwickelt in diesen frühen Jahren innere Arbeitsmodelle, also unbewusste Überzeugungen darüber, wie Beziehungen funktionieren und welchen Platz wir in ihnen einnehmen.

Menschen mit Trennungsangst haben häufig gelernt: „Ich bin nur sicher, wenn ich in der Nähe von anderen bin“, oder: „Wenn ich nicht aufpasse, werde ich verlassen.“ Diese Überzeugungen können noch im Erwachsenenalter aktiv sein – selbst, wenn die äußeren Umstände längst andere sind.

Woran erkenne ich Trennungsangst bei mir selbst?

Nicht jede Verlustangst ist gleich pathologisch. Es lohnt sich jedoch, ehrlich auf die eigenen Beziehungsmuster zu blicken. Mögliche Anzeichen für Trennungsangst:

  • Starke Verlustfantasien: Schon kleine Konflikte lösen intensive Angst aus, dass die Beziehung zu Ende geht.
  • Klammerndes Verhalten: Es fällt schwer, dem anderen Raum zu lassen, aus Angst, dadurch an Bedeutung zu verlieren.
  • Schwierigkeiten mit Alleinsein: Das Alleinsein wird als bedrohlich empfunden und möglichst vermieden.
  • Emotionale Überreaktionen bei Distanz: Wenn der Partner oder die Partnerin sich zurückzieht, folgen starke Selbstzweifel oder Panik.
  • Vermeidung von Nähe aus Angst vor Trennung: Aus Schutz vor potenziellem Schmerz wird echte Intimität vermieden.

Psychologische Zusammenhänge: Bindungstheorie & Kindheitserfahrungen

Die Bindungstheorie (Bowlby, 1980; Ainsworth et al., 1978) geht davon aus, dass frühkindliche Beziehungserfahrungen unser späteres Bindungsverhalten prägen. Dabei entstehen vier grundlegende Bindungsstile:

  • Sicher gebunden: Vertrauen in Beziehungen, konstruktiver Umgang mit Trennungen.
  • Unsicher-vermeidend gebunden: Distanz als Selbstschutz, starke Autonomie.
  • Unsicher-ambivalent gebunden: Bedürfnis nach Nähe und ständige Angst vor Zurückweisung.
  • Desorganisiert gebunden: Widersprüchliche Reaktionen auf Nähe und Distanz.

Menschen mit Trennungsangst zeigen oft ein unsicher-ambivalentes oder desorganisiertes Bindungsverhalten. In aktuellen Beziehungen wiederholen sich dann die alten Muster und das teils unbewusst.

Strategien im Umgang mit Trennungsangst

Trennungsangst ist behandelbar – durch Selbstreflexion, therapeutische Unterstützung oder gezieltes Training von emotionaler Selbstregulation. Hier sind drei erprobte Ansätze:

1. Selbstregulation durch Achtsamkeit und Atemtechniken

Bei akuter Angst ist es zentral, sich körperlich zu stabilisieren. Atemübungen wie die 4-7-8-Methode (4 Sekunden einatmen, 7 halten, 8 ausatmen) helfen, das Nervensystem zu beruhigen. Auch Achtsamkeitstechniken wie Body Scans oder Meditation fördern die Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, ohne sich von ihnen überwältigen zu lassen.

2. Muster erkennen und reflektieren

Ein wichtiger Schritt ist, die eigenen Beziehungsmuster zu verstehen: In welchen Situationen wird die Trennungsangst getriggert? Gibt es Parallelen zu früheren Erfahrungen? Journaling, Gespräche mit Freunden oder psychologische Beratung können dabei helfen, unbewusste Dynamiken bewusst zu machen.

3. Eigene Grenzen stärken

Menschen mit Trennungsangst stellen ihre eigenen Bedürfnisse oft hinten an – aus Angst, „zu viel“ zu sein oder andere zu verlieren. Lernen, „Nein“ zu sagen und auf die eigenen Grenzen zu achten, ist essenziell. Eine gesunde Beziehung basiert auf Nähe und Selbstständigkeit – nicht auf Abhängigkeit.

Fazit: Trennungsangst ist kein Makel

Trennungsangst ist ein nachvollziehbares, menschliches Phänomen – oft tief verwurzelt, aber kein Schicksal. Wer sich seiner Muster bewusst wird, kann lernen, neue Wege zu gehen: mit mehr Selbstvertrauen, innerer Sicherheit und der Fähigkeit, Beziehungen liebevoll, aber nicht abhängig zu gestalten.

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Quellenangaben
  • Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale, NJ: Erlbaum.
  • Bowlby, J. (1980). Attachment and loss: Volume III. Loss: Sadness and depression. New York: Basic Books.
  • Cassidy, J., & Shaver, P. R. (Eds.). (2016). Handbook of attachment: Theory, research, and clinical applications (3rd ed.). New York: Guilford Press.
  • Mikulincer, M., & Shaver, P. R. (2007). Attachment in adulthood: Structure, dynamics, and change. New York: Guilford Press.
  • Marganska, A., Gallagher, M., & Miranda, R. (2013). Adult attachment, emotion regulation, and symptoms of depression and anxiety. American Journal of Orthopsychiatry, 83(1), 131–141. https://doi.org/10.1111/ajop.12001